Thomas Betz:

War Keynes der bessere Gesell oder Gesell der bessere Keynes?


Übersicht

Urzins und Liquiditätsverzichtsprämie
Wirtschaftspolitischer „Gezeitenwechsel“
Kritik am Marxismus
Ausgleich der Weltwirtschaft
Nach Keynes
Differenz zwischen Keynes und Gesell
Anmerkungen


Urzins und Liquiditätsverzichtsprämie

Aus der Fragestellung darf mit Recht geschlossen werden, dass die beiden Herren etwas miteinander zu tun haben oder jedenfalls hatten. Und in der Tat: Die augenscheinlichste Gemeinsamkeit der beiden ist die Konstatierung und die Interpretation des Zinses als eines arbeits- und leistungslosen Überschusses.
Für Keynes ist die sog. Liquiditätsprämie bzw. Liquiditätsverzichtsprämie die – allerdings selbst nichtmonetäre – Ertragsrate der Geldhaltung gegenüber der Option, „reale“ bzw. konkrete Konsum- oder Investitionsgüter zu halten, die nicht, jedenfalls nicht vergleichbar, liquide sind. Die Liquiditätsprämie auf Geld bestimmt nun den – monetären – Zinssatz und dieser – da dem Investitions- und Produktionsprozess vorgeschaltet – die Untergrenze des mindestens zu erwirtschaftenden Profits.

Gesell argumentiert ganz ähnlich: Alle Güter sind von Natur aus mit Durchhaltekosten belastet, d.h. sie verwittern, verfaulen, veralten. Geld hat keine bzw. weit geringere Durchhaltekosten. Deshalb ist der Geldhalter – und insbesondere der wohlhabende, der also unter keinem sofortigen Zwang zum Konsumieren steht – im Vorteil gegenüber dem Halter von Gütern. Er kann es sich leisten, zu warten, ohne einen (dem Güterhalter) vergleichbaren Wertverlust zu riskieren und zu realisieren. Dadurch kann er die Unterlegenheit des Güterhalters ausnutzen: Er verlangt ihm einen Abschlag ab, den sog. Urzins. Weil der Urzins durch reine Kaufzurückhaltung bzw. Kaufverzögerung bzw. „Horten“ (des Geldes) erzwungen werden kann, ist er natürlich auch dann fällig, wenn Geld verliehen und für Investitionszwecke zur Verfügung gestellt wird. Was also für Keynes die Liquiditätsprämie, ist für Gesell der Urzins.

Weil das Geld eine Monopolstellung sowohl als Tauschmittel als auch als Wertaufbewahrungsmittel genießt, kann der Geldbesitzer sich für die Nichtwertaufbewahrung per Geld durch den Zins entschädigen lassen.[1] Keynes und Gesell bestreiten also beide, dass der Zins etwas mit Konsumverzicht zu tun hat, mit „Produktivität des Geldkapitals“ etwa, mit „Sparprämie“, „Warteprämie“ o.ä., sondern der Zins ist einzig und allein eine Belohnung für die Aufgabe von Liquidität und in seiner Höhe ein Maß für die Abneigung der Geldbesitzer, sich von ihren liquiden Mitteln zu trennen. Mit der Verfügungsgewalt über Geld hinsichtlich der Entscheidung, Geld nun zu halten oder zu investieren, dominiert das Geldkapital den gesamten Wirtschaftsprozess. Alle ökonomischen Vorgänge werden grundsätzlich von der Verfügungsgewalt der Geldbesitzer über ihre Geldvermögensbestände bestimmt.

Variationen in der Neigung zur Geldhaltung bestimmen die Liquiditätsprämie und somit die Höhe des Geldzinses.

Dieser Geldzins bestimmt nun auch die Profitrate der Produktion (in der sog. Realsphäre): Eingesetztes Sachkapital ist vorgeschossenes Geld des Geldkapitals und muss als solches in Höhe des Kredit- bzw. Geldzinses refundiert werden. Damit ist ein Rentabilitätszwang in Höhe des Geldzinses (als Untergrenze) in die Welt gesetzt. Der Profit des Sachkapitals ist also keine eigenständige Größe, sondern eindeutig bestimmt durch die Liquiditätsprämie. Indem das Geldkapital das Geldangebot knapp hält, zwingt es zur Knapphaltung der Produktion. Beide – Keynes wie Gesell – bestreiten also, dass die Entstehung des Profits irgend etwas mit dem Privatbesitz an Produktionsmitteln zu tun hat, und setzen sich damit auch in diametralen Gegensatz zur marxistischen Perspektive.

Auch im Hinblick auf die Analyse von Krise und Arbeitslosigkeit stimmen die beiden in ihren Grundthesen überein: Im Konjunkturabschwung sinkt die Liquiditätspräferenz nicht etwa, sondern sie hat im Gegenteil sogar die Neigung, weiter anzusteigen; jedenfalls bleibt der dadurch induzierte Zinssatz über dem Vollbeschäftigungsgleichgewicht. Ein Selbstverstärkungsprozess ist in Gang gekommen: Die solcherart entstandene Zinsbarriere ist die Ursache für Krise und Arbeitslosigkeit und hat ihrerseits ihre letzte Ursache in der offensichtlich problematischen Funktion des Geldes als Wertaufbewahrungsmittel. So wie im Konjunkturaufschwung die Sachkapitalbildung durch Verzicht auf Geldhaltung ermöglicht wird, so wird auch die Sachkapitalbildung durch die Grenzen der Bereitschaft zur Geldhergabe beschränkt.

In der Krise wird nun die so notwendige Verbilligung der Kredite durch die gleichbleibend hohe Liquiditätspräferenz verhindert und damit auch eine Erweiterung der Produktion auf Vollbeschäftigungsniveau. Im Gegensatz zur klassischen Schule ist hier also die Krise nicht etwa Folge eines Kapitalmangels aufgrund zu geringen Konsumverzichts, sondern geradezu im Gegenteil Folge einer Knapphaltung von zurückgehaltenem Geld. Das Geldkapital löst die Krise aus und beendet sie erst wieder, wenn die Profiterwartungen auf den Gütermärkten das Niveau der Liquiditätsprämie erreichen.

Wirtschaftspolitischer „Gezeitenwechsel“

Aber auch im Hinblick auf ihre letztendlichen Ziele sind sich Keynes und Gesell weitgehend einig: Gesell will eine konsequente staatliche Rahmenrechtsordnung schaffen, die die Macht des Geldes über den Güter- und Arbeitsmarkt überwindet, indem sie die permanente Wirksamkeit des Geldes als private Nachfrage sicherstellt und dadurch das Geld zum tatsächlich neutralen Tauschmittel macht. Sodann hat es keinen autonomen Einfluss auf die Allokation der Ressourcen, auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie auf die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung mehr. Nicht die Marktwirtschaft soll beseitigt werden, sondern der „monetäre Defekt“ derselben, um die bislang eingeschränkten Selbstregelungs- und Selbstheilungskräfte des Marktes erst voll zur Entfaltung zu bringen.

Dem Geld soll seine auf seinem Liquiditätsvorteil beruhende strukturelle Macht genommen werden; dadurch, dass es im Falle eines Rückzugs in die Nachfrageunwirksamkeit mit Durchhaltekosten belastet wird (z.B. Stempelgeld). Dadurch soll das Geldkapital in jeder Situation veranlasst werden, als wirksamer Nachfrager von Konsum- und Investitionsgütern auf dem Markt zu erscheinen; auch bei rückläufiger Grenzleistungsfähigkeit des Realkapitals.

Der Marktzins sowie die Grenzleistungsfähigkeit des Realkapitals würden dann allmählich gegen Null absinken und die kapitalistische Marktwirtschaft dadurch in eine „nachkapitalistische Marktwirtschaft“ übergehen. Der Zins würde nicht etwa vollständig abgeschafft, sondern er pendelte in einer gewissen Bandbreite um Null und sorgte damit als Knappheitsindikator für eine optimale Lenkung der Kapitalströme in die bedarfsgerechte Investition. Für die Erhaltung der Lenkungsfunktion des Zinses wären dann allerdings die bislang bekannten Höhen der Zinssätze nicht mehr erforderlich.
Das Geld, nunmehr echtes allokationsneutrales Tauschmittel, vermittelte jetzt einen wirklich gerechten Austausch von Leistungen und Gegenleistungen. Das Geld wirkte verteilungsneutral, d.h. bestehende Einkommens- und Vermögensunterschiede könnten nicht noch größer werden bzw. nur noch durch tatsächliche Leistungsunterschiede. Eine elementare Voraussetzung für die Bändigung sowie den Abbau sozialer Gegensätze wäre damit geschaffen.

Keynes anerkennt in der „General Theory of Employment, Interest and Money“ ausdrücklich: „Jene Reformatoren, die in der Erzeugung künstlicher Durchhaltekosten des Geldes ein Heilmittel gesucht haben, zum Beispiel durch das Erfordernis periodischer Abstempelungen der gesetzlichen Zahlungsmittel zu vorgeschriebenen Gebühren, sind somit auf der richtigen Spur gewesen; und der praktische Wert ihrer Vorschläge verdient erwogen zu werden.“[2] Allerdings kommt er – wie wir noch sehen werden – an dieser Stelle zu anderen Schlussfolgerungen als Gesell. Aber der angestrebte Endzustand ist derselbe: „Unter solchen Voraussetzungen würde ich schätzen, dass ein richtig geleitetes, mit modernen technischen Hilfsmitteln ausgerüstetes Gemeinwesen .... in der Lage sein sollte, innerhalb einer Generation die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals im Gleichgewicht auf ungefähr Null herunter zu bringen; so dass wir die Zustände eines quasistatischen Gemeinwesens erreicht haben würden, in dem Änderungen und Fortschritt sich nur aus Änderungen in der Technik, im Geschmack, in der Bevölkerung und in den Institutionen ergeben würden, wobei die Erzeugnisse von Kapital zu einem der in ihnen verkörperten Arbeit usw. entsprechenden Preis verkauft werden würden....“[3]

Bereits für Keynes war also klar: Durch den auf Null stabilisierten Zinsfuß entfällt der zerstörerische Zwang zum ungehemmten exponentiellen Wachstum sowohl des Geld- als auch des Realkapitals, insbesondere in einer Situation gesättigter Gütermärkte. Das Geld kann nun auch in soziale und kulturelle Bereiche fließen, in denen es aus Rentabilitätsgründen bislang Mangelware war und somit im Übergang vom exponentiell-quantitativen zum qualitativen Wachstum zu einer Entspannung des Konflikts von Ökonomie und Ökologie beitragen.

Was aber Keynes mit Gesell verbindet, ist nicht nur der Umstand, dass er in den bestehenden Geldverfassungen die Ursache für Krise und Instabilität verortet und dass er ähnlich diesem langfristig einen Zustand eines Zinssatzes nahe Null anstrebt, sondern eben auch, dass er sich wie Gesell daran stört, dass der Zins polarisierend wirkt, d.h. von unten nach oben umverteilend (oder die Reichen reicher und die Armen ärmer machend): „Wenn ich recht habe in meiner Annahme, dass es verhältnismäßig leicht sein sollte, Kapitalgüter so reichlich zu machen, dass die Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals Null ist, mag dies der vernünftigste Weg sein, um allmählich die verschiedenen anstößigen Formen des Kapitalismus los zu werden. Denn ein wenig Überlegung wird zeigen, was für gewaltige gesellschaftliche Änderungen sich aus einem allmählichen Verschwinden eines Verdienstsatzes auf angehäuftem Reichtum ergeben würden. Es würde einem Menschen immer noch freistehen, sein verdientes Einkommen anzuhäufen, mit der Absicht, es an einem späteren Zeitpunkt auszugeben. Aber seine Anhäufung würde nicht wachsen.“ [4]

Und an anderer Stelle: „Ich betrachte daher die Rentnerseite des Kapitalismus als eine vorübergehende Phase, die verschwinden wird, wenn sie ihre Leistung vollbracht hat. Und mit dem Verschwinden der Rentnerseite wird noch vieles andere einen Gezeitenwechsel erfahren. Es wird überdies ein großer Vorteil der Ereignisfolge sein, die ich befürworte, dass der sanfte Tod des Rentners, des funktionslosen Investors, nichts Plötzliches sein wird, sondern ... keine Revolution erfordern wird.“ [5]

Obwohl der Aspekt nicht immer im Vordergrund der Diskussion steht, ist gleichzeitig für Gesell doch auch unabdingbar, dass die angestrebte Geldreform mit einer damit in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang stehenden Bodenreform verknüpft wird. Denn für Gesell ist klar, dass eine nach seinen Vorstellungen erfolgende Geldreform ohne Bodenreform zwangsläufig dazu führen müsste, dass die Wertaufbewahrungsfunktion von Geld sofort auf den nicht vermehrbaren Boden übergeht, dessen Preise über kurz oder lang – und noch viel stärker als ohne Geldreform – ins Unermessliche steigen müssten. Jedenfalls wäre auf diese Art und Weise die Möglichkeit eines arbeits- und leistungslosen Einkommens, eben eine Grund-Rendite bzw. Grundrente, die auch wieder auf andere Bereiche ausstrahlen kann, nicht beseitigt. Ganz ähnlich sieht das Keynes, der in der „General Theory“ feststellt, dass „ ... es Zeiten gegeben (hat), in denen wahrscheinlich die Begierde nach dem Besitz von Land, ohne Rücksicht auf sein Erträgnis, dazu beigetragen hat, den Zinsfuß hoch zu halten.“ [6]

Kritik am Marxismus

Einig sind sich Keynes und Gesell auch in der eindeutigen Ablehnung der marxistischen Analyse: Zwar besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen Marx und Gesell in der konstatierten fundamentalen und umfassenden gesellschaftlichen Polarisation von Reichtum und Armut. Allerdings stellt Gesell dem Marxschen „Kapital contra Arbeit“ die Zweiteilung der Gesellschaft in Geldkapitalisten auf der einen und Produzenten, Arbeiter und Konsumenten auf der anderen Seite gegenüber, wobei der Bruch letztlich durch alle Schichten der Gesellschaft geht. Beide Schulen thematisieren kapitalistische Eigentumsformen und die Möglichkeiten ihrer Überwindung. Während aber die Marxisten letztlich das gesamte Gesellschaftssystem darauf zurückführen, sind für Gesell geradezu umgekehrt die Eigentumsformen eine Folgeerscheinung der kapitalistischen Geldordnung.

Das tragische Missverständnis von Marx besteht für Gesell in der kritiklosen Übernahme der Vorstellung des Geldes als vollkommenes Warenäquivalent und vollkommenes Tauschmittel aus der Klassik.[7] Damit sei er von Anfang an auf ein völlig falsches Gleis abgetrieben. Marx finde am Geld, so wie es ist, nichts auszusetzen. Es sei für ihn auch kein selbstständiges Kapital und insofern auch nicht Quelle des Mehrwertes.

Allein die Arbeitskraft ist für Marx die Quelle des Mehrwerts. Wiewohl er den Zins und seine (Geld)kapitalbildende Wirkung auch akzeptiert, bestreitet er die für Gesell damit offensichtliche Nichtneutralität dieses Tauschmittels. Mehrwertheckendes Kapital sind für Marx Sachgüter, die Produktionsmittel bzw. die Realkapitalien; entsprechend ist die Mehrwertbildung im Produktionsprozess zu suchen. Wiederum in einer kritiklosen Übernahme aus der volkswirtschaftlichen Literatur seiner Zeit – so Gesell – betrachte Marx die Arbeitskraft als eine Ware, deren Gebrauchswert um den Mehrwert höher sei als deren Tauschwert, die aber gleichwohl mit Geld vollkommen und äquivalent getauscht werde.

Hingegen findet Gesell in seiner Schrift „Die Ausbeutung, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung“ gerade in der von Marx selbst stammenden Formel des Tausches
Geld – Ware – Mehrgeld:
  G - W - G’; G’ = G + g;  g = Mehrwert
den unmittelbaren Beleg dafür, dass das Geld eben nicht vollkommenes Äquivalent der Waren, sondern selbstständiges Kapital ist, dass G’ nicht Produkt einer ewig wiederholten Prellerei sein könne, sondern Ergebnis einer Überlegenheit des Geldbesitzers über den Warenbesitzer sein müsse, mithin Produkt eines wirtschaftlichen Machtfaktors.

Gesell holt sich auch Unterstützung beim französischen Sozialisten Proudhon, einem Zeitgenossen von Marx und von ihm bekämpftem Gegenspieler, für den (gleich Gesell) ebenfalls Mehrwert nicht Produkt eines Sachgutes, sondern eines wirtschaftlichen Zustandes, eines Machtverhältnisses war. Proudhon suchte die Quelle des Mehrwertes ebenfalls im Tausch der Ware gegen Geld; nach seiner Ansicht steckten die Wurzeln des Kapitalismus im Gelde.

Für Gesell ist klar: „Wir haben zu wählen zwischen der Beseitigung der Baufehler unserer alten Wirtschaftsweise und dem Kommunismus der Gütergemeinschaft. Ein anderer Ausweg ist nicht da ...“[8] Aber die Verstaatlichung der Industrie und eine Planwirtschaft waren für ihn der falsche Weg. Gesell starb zu früh, um Zeitzeuge der schlimmsten Erscheinungsformen des Stalinismus sein zu können, aber seine Haltung war gleichwohl eindeutig: „Seht, wie die Kapitalisten der ganzen Welt sich über das russische kommunistische Experiment freuen! Es soll die Tatsachen zum Beweise liefern, dass der Marxismus das Volk dem Hungertode ausliefert. Nach dieser Revolution soll dann noch einer es wagen, den Kapitalismus anzugreifen!“ [9]

Keynes steht in seiner kritischen Haltung gegenüber Marx Gesell in nichts nach; sowohl
im Hinblick auf dessen Analyse (so hat er einmal Joan Robinson gegenüber geäußert, Marx „habe einen scharfsinnigen und ursprünglichen Instinkt, sei aber doch ein sehr mangelhafter Denker“[10]), als auch in seiner Abscheu gegenüber dem real existierenden Kommunismus bereits der 1920er, natürlich aber noch viel mehr gegenüber dem der 1930er Jahre, die Legende ist. Für ihn war der Sowjetkommunismus „das schlimmste Beispiel, das die Welt wohl je an administrativer Inkompetenz gesehen hat und dem fast alles zum Opfer fällt, was das Leben ... lebenswert macht.“ [11]

Im Zusammenhang mit seiner Grundhaltung zu Marx nimmt Keynes in seinem Hauptwerk (der „General Theory on Employment, Interest and Money“) zum Hauptwerk Silvio Gesells (der „Natürlichen Wirtschaftsordnung“) wie folgt Stellung: „Der Zweck des Buches als Ganzes kann als die Aufstellung eines antimarxistischen Sozialismus beschrieben werden, eine Reaktion gegen das Laissez-faire, auf theoretischen Grundlagen aufgebaut, die von jenen von Marx grundverschieden sind, indem sie sich auf eine Verwerfung statt Annahme der klassischen Hypothesen stützen und auf eine Entfesselung des Wettbewerbs statt auf seine Abschaffung. Ich glaube, dass die Zukunft mehr vom Geiste Gesell als von jenem von Marx lernen wird.“ [12]

Ausgleich der Weltwirtschaft

Eine bedeutungsvolle Parallele zwischen Keynes und Gesell ist auch die zwischen dem sog. „Keynes-Plan“ und der „Internationalen Valuta-Assoziation“ von Gesell.[13] Der Keynes-Plan wurde vom bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts auf der bedeutendsten Konferenz des 20. Jahrhunderts selbst vorgestellt: In Bretton Woods im Jahre 1944, wo die Sieger des 2. Weltkriegs über die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit berieten und befanden.

Grundlegende Gedanken eines derartigen Systems lassen sich bereits in dem von Silvio Gesell im Jahre 1920 unterbreiteten Vorschlag einer „Internationalen Valuta-Assoziation“ (IVA) finden: Dabei sollte neben den weiterexistierenden preisstabilen nationalen Währungen eine von allen an der Assoziation teilnehmenden Ländern als vollgültiges Zahlungsmittel akzeptierte internationale Währung, die “Iva“, umlaufen, deren Wert wiederum zu den nationalen Währungen fixiert sein sollte. Kommt es nun zu Preiserhöhungen bzw. -senkungen in den einzelnen Ländern – etwa aufgrund einer Änderung der umlaufenden (nationalen) Geldmenge oder aber der Umlaufgeschwindigkeit derselben – so hätte dies entsprechende Abflüsse bzw. Zuflüsse von Iva-Noten aus dem bzw. in das betreffende Land zur Folge, was wiederum korrigierend auf das Preisniveau zurückwirken würde. In einer Situation aber, in der eine Erhöhung des nationalen Notenumlaufs die Iva-Noten aus dem betreffenden Land restlos “vertreibt“, nunmehr also die Außenhandelsbilanz nicht mehr zum Ausgleich gebracht werden kann, entsteht – administrativ – die Verpflichtung einer Zinszahlung (!) gegenüber der die Iva-Noten ausgebenden Verwaltung bzw. selbige gibt neue Iva-Noten an das betreffende Land nur noch gegen Agio aus. Dies erzwingt schließlich eine Rücknahme der nationalen Notengeldmenge, welche schließlich zu Preisrückgängen und endlich zu einem entsprechenden Ausgleich der Außenhandelsbilanz führt. Als letztes Mittel sind Interventionen bzw. das Recht auf “Anweisungen“ an die einzelnen Nationalstaaten durch die IVA vorgesehen. Nicht durch eine Internationalisierung des gesamten Geldumlaufs sollte also die Stabilität der Wechselkurse herbeigeführt werden, sondern dadurch, dass man einer beschränkten Anzahl Noten oder Münzen (Gesell sprach von 20%) internationale Gültigkeit verleiht.
Der Keynes-Plan oder auch Bancor-Plan sah die Gründung einer Union für den internationalen Zahlungsverkehr, die sog. ”International Clearing Union”, vor, die auf einem internationalen – gewissermaßen virtuellen – Bankgeld, dem sog. Bancor, beruht. Der Bancor sollte in einem festen (aber nicht für alle Zeit unveränderlichen) Austauschverhältnis zu den teilnehmenden Währungen stehen, dabei aber selbst nicht in Notengeldform oder anderweitig als Zahlungsmittel für die Wirtschaftssubjekte in Erscheinung treten. Die Zentralbanken der Mitgliedsländer sollten bei der International Clearing Union Konten unterhalten, die es ihnen ermöglichen, ihre Leistungs bilanzen untereinander, definiert in Bancor-Einheiten, auszugleichen. Für Länder mit einer positiven Leistungsbilanz (die also mehr Güter und Dienstleistungen exportieren) würde bei der Clearing Union ein Bancor-Guthaben ausgewiesen werden, für solche mit einer negativen Bilanz ein entsprechendes Soll.

Das Ganze würde von Maßnahmen begleitet sein, die einer unbegrenzten Anhäufung von Guthaben sowie von Schulden entgegenwirken: Für jeden Mitgliedstaat wird zunächst die Höhe seiner maximal erlaubten Verschuldung gegenüber der Union festgelegt: die sog. ”Quote”, welche jedoch in regelmäßigen Abständen überprüft und angepasst werden kann. Übersteigt nun der jährliche Durchschnitts-Saldo eines Mitgliedsstaates ein Viertel seiner Quote, so soll vom entsprechenden Differenzbetrag eine Gebühr von 1% an den sog. Reserve-Fonds der ”Clearing Union” gezahlt werden; und zwar unabhängig davon, ob es sich nun um einen Haben- oder Schuldensaldo handelt. Übersteigt der Saldo die Hälfte der Quote, so erhöht sich die Gebühr auf 2%. Mitgliedsstaaten, die Schulden haben, können aber nunmehr auf Grundlage gegenseitiger Vereinbarungen aus den Guthaben der Mitgliedsstaaten, die über solche verfügen, Anleihen aufnehmen, wodurch beide, die Schuldner wie die Gläubiger, ihre Gebühren an die Clearing Union vermeiden können. Dabei ergibt es sich marktlogisch, dass die Konditionen für diese Anleihen bei Zinssätzen unter 1% bzw. unter 2% liegen werden, da die Schuldner selbstverständlich nicht bereit sein würden, mehr zu bezahlen als sie an Gebühren an die Clearing Union zu entrichten hätten. Auf der anderen Seite sind die Gläubiger ebenfalls froh, keine Gebühren entrichten zu müssen und geben sich im Idealfall mit einem Zinssatz nahe oder sogar gleich Null zufrieden. Unter den gegebenen Bedingungen ist es ebenso vorstellbar, dass sich Gläubiger – zumindest vorübergehend – mit leicht negativen Zinssätzen einverstanden erklären, da sich ihre Position dadurch immer noch günstiger darstellte, als wenn sie Strafgebühren entrichten müssten.

Die fundamentale Eigenschaft der ICU ist also die einer Institution, die multilateral barter trading (z. dt. Kompensationsgeschäfte) organisiert und auf Basis eines ”Geldes” verrechnet, das lediglich bei der Verbuchung gelieferter Leistungen auf der Aktivseite des Lieferanten und auf der Passivseite des Verbrauchers in Erscheinung tritt, auf Geldverkehr im üblichen Sinne also völlig verzichtet. Man könnte sie also durchaus mit einem Tausch-Ring der Nationalstaaten vergleichen. In Bank-Termini ausgedrückt, handelt es sich also um eine ”Bank”, die sich einer nicht konvertiblen Währungseinheit bedient, kein Liquiditätsproblem kennt, immer zahlungsfähig ist, nicht zusammenbrechen und dementsprechend auch auf Reserven verzichten kann. Insofern kann auch darauf verzichtet werden, dass einzelne Mitgliedstaaten Vermögenswerte zur Verfügung stellen, um einen Kapitalstock für einen Fond zu bilden, der Kredite vergibt (wie das bei IWF und Weltbank der Fall ist). Die Bereitstellung der Liquidität würde in genau der zur Finanzierung des Handels erforderlichen Größenordnung erfolgen. Im Verhältnis zum Bedarf wäre also nie zuviel oder zuwenig internationales Geld vorhanden. Die internationale Währung wäre ausschließlich von endogenen Prozessen bestimmt und nicht abhängig von Goldfunden, vom Vertrauen in eine Leitwährung bzw. vom Grad der durch das Leitwährungsland zur Verfügung gestellten Liquidität. Das in der Praxis häufig hochproblematische Dilemma zwischen der Verwendung der Leitwährung als einerseits nationaler Währung und andererseits internationaler Liquidität und Zentralbankreserve wäre aufgelöst. Keynes betont auch, dass ein weiterer bedeutender Vorteil des Systems darin besteht, dass dabei nicht mehr Liquidität über Hortungsmechanismen dem Markt entzogen (insbesondere sollte auch die Konvertibilität des Bancor in Gold explizit ausgeschlossen werden) und dadurch deflationärer Druck mit Kontraktionswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft ausgeübt werden kann.

Nach Keynes

Wie kommt es nun, dass die gezeigte frappierende Konkordanz von Keynes und Gesell kaum mit dem übereinstimmt, was ansonsten mit dem Namen Keynes in Verbindung gebracht wird und dass das Aufzeigen dieser Zusammenhänge immer wieder auch viele Menschen in Erstaunen versetzt, die für sich in Anspruch nehmen, Keynes oder jedenfalls den Keynesianismus zu kennen?

Die Anhänger Gesells haben schon sehr früh auf die Parallelen zu Keynes hingewiesen und darauf, dass in der „General Theory“ neben der „klassischen“ Idee des primär Zentralbank-bestimmten Zinssatzes im 15. Kapitel im 13. und 17. Kapitel die Konzeption einer Zinstheorie entworfen wird, in der durch die „Entscheidung zu Horten“ der Zinssatz zum Preis für eine beschränkt aufgegebene Liquidität wird. Obgleich ihr im Buch mindestens derselbe Platz und Umfang eingeräumt wird, fällt sie bei der Weiterentwicklung des Keynesianismus im sog. „Postkeynesianismus“ genauso unter den Tisch wie Keynes positive Würdigungen der Person Gesells und seiner Reformvorschläge. Zurecht wird kritisiert, dass eine sog. „keynesianische Wirtschaftspolitik“, die Keynes auf einen „Mr. Deficit Spending“ reduziert und ihn – „konsequenterweise“ – auch für die grassierende Staatsverschuldung verantwortlich macht, sich zu Unrecht seines Namens befleißigt.

Aber Ende der sechziger Jahre macht auch ein Keynesianer – namens Leijonhufvud – darauf aufmerksam, dass neben dem Beschäftigungstheoretiker Keynes – auf den sich die Globalsteuerung und der Staatsinterventionismus beruft – auch ein Geldtheoretiker Keynes existiert, für den die bestehende Geldordnung die immanente Neigung der Marktwirtschaft zur Instabilität zumindest mitbedingt.[14] Er rehabilitiert und verteidigt den geldtheoretischen Keynes gegen die herrschende postkeynesianische Ökonomie und deren Suggestion, dass die Keynessche Liquiditätspräferenztheorie eine bloße Wahl zwischen nominell fixierten und nominell variablen Vermögensobjekten thematisiert.[15] Denn sehr viel mehr meint die Keynessche Liquiditätspräferenztheorie die Wahl zwischen Geld und kurzfristigen Forderungen einerseits und langfristigen und realen Aktiva andererseits. Leijonhufvud argumentiert im Kontext einer Geldwirtschaft und damit, dass Investitionen, die mit Geld zu tätigen sind, notwendig den Verzicht auf die Geldhaltung bei den Geldbesitzern voraussetzen. Damit ist aber die reale Produktion dem Kalkül der Geldbesitzer, ihr Vermögen zu sichern und zu mehren, ausgeliefert. Und entsprechend sind auch Stockungen und Krisen auf das Verhalten der Geldbesitzer zurückzuführen.

Eine weitere Ausarbeitung erfuhr der monetäre Gehalt der Keynesschen Theorie durch die Keynesianer Davidson, Kregel und Minsky, die sich gegen den konventionellen (orthodoxen) Postkeynesianismus abgrenzen und ihm ihren „keynesianischen Fundamentalismus“[16] gegenüberstellen. Sie verstehen sich selbst als die Gralshüter der (eigentlichen) Keynesschen Theorie und schrecken auch nicht davor zurück, keynesianische Beschäftigungstheoretiker zuweilen als „Bastardkeynesianer“ zu kritisieren, die Keynes nicht als Geldtheoretiker erkannt hätten, obwohl er immer wieder die herausragende Bedeutung des Geldes in modernen Marktwirtschaften herausgestellt hat.

Davidson formuliert in Anlehnung an Keynes folgende Grundpositionen:

1. Moderne Geldwirtschaften besitzen keinen automatischen Mechanismus, der eine dauerhafte Vollbeschäftigung sicherstellt.
2. Die Arbeitslosigkeit muss in Verbindung mit den Charakteristika von Geld gesehen werden.
3. Die besondere Bedeutung des Geldes für den Wirtschaftsprozess rührt daher, dass Geld in einer von Unsicherheit gekennzeichneten Welt das einzige Surrogat relativer Sicherheit ist.[17]

Als Weiterentwicklung des keynesianischen Fundamentalismus kann der sog. „Monetärkeynesianismus“ um den Berliner Ökonomen Hajo Riese gelten. Riese und seine Mitstreiter rehabilitieren ebenfalls Keynes’ Geldtheorie, gehen aber zum Teil auch darüber hinaus und geraten dabei in Argumentationsketten, die – zufällig oder auch nicht – durchaus an die Gesellsche Terminologie erinnern: Im Zusammenhang mit der Feststellung, dass die Geldbesitzer mit ihrer Entscheidung, Geld zu halten oder zu investieren, den gesamten Wirtschaftsprozess dominieren, spricht Riese immer wieder von der Dominanz der Geldsphäre über die Gütersphäre.

Die (Geld)Vermögensbestände stellen Riese zufolge die entscheidende Größe dar, über deren Verwendung Unternehmen und Haushalte zu entscheiden hätten. Variationen in der Geldhaltung veränderten die Liquiditätsprämie und damit die Höhe des Geldzinses. Bei Riese steuern „die Vermögensbesitzer das Marktsystem, indem sie die Verfügung über Geld (‚Vermögen’) knapp halten. Dabei lässt sie die Unsicherheit des Vermögensrückflusses das Angebot an (Aufgabe von) Liquidität knapp halten. Die Vermögensbesitzer stehen so vor dem doppelten Entscheidungskalkül, einerseits die Verzinsung des Vermögensobjektes (‚Rendite’) zu kalkulieren, andererseits die Sicherheit des Vermögensrückflusses abzuschätzen.“ [18]

Mit der nachfolgenden Formulierung begibt sich Riese aber in eine ‚gefährliche’ Nähe zum Gesellschen Denkansatz: „Der Kapitalwert ist eine Form der Aufgabe von Liquidität, weil der Vermögensbesitzer (als Gläubiger) dem Unternehmer (als Schuldner) Geld zum Kauf von Produktionsmitteln bereitstellen (‚vorschießen’) muss ... Ist jedoch Kapital eine Form aufgegebener Liquidität, eine Verbindlichkeit des Unternehmers gegenüber dem Vermögensbesitzer, so ist auch die Profitrate eine Prämie für die Aufgabe von Liquidität. Die Profitrate ist somit ein Geldzins oder sie wird, wenn man so will, als Geldzins zum Güterzins.“ [19]

Riese verortet bei Keynes eine gewisse Inkonsequenz aufgrund der Tatsache, dass der Zins bei ihm gewissermaßen doppelt bestimmt wird: Denn einerseits soll er eine Belohnung für Nichthortung sein, also durch die Präferenzen der Geldbesitzer bestimmt werden, gleichzeitig aber auch durch die Zinspolitik der Notenbank. So glaubt Keynes, die Notenbank könne durch eine expansive Geldmengenpolitik die Zinsen senken. Diese Überzeugung steht jedoch in offensichtlichem Gegensatz zur Präferenztheorie, wonach die Bereitschaft der Geldbesitzer zur Aufgabe von Liquidität die Zinshöhe bestimmt. Riese kommt zu dem Schluss, dass eine Notenbank zwar keine Zinssenkungspolitik betreiben kann, wohl aber eine solche der Zinserhöhung: Denn durch eine restriktive Geldmengenpolitik kann die Notenbank in der Tat die Zinsentwicklung – nach oben – beeinflussen, betreibt sie doch in diesem Fall anstelle der privaten Geldbesitzer die Knapphaltung von Liquidität und treibt so die Zinsen in die Höhe. Im Falle einer ausreichenden Geldversorgung jedoch unterliegt die Zinsbildung allein den Präferenzen der Geldbesitzer. Die Notenbank hat dann keine Möglichkeit der Einflussnahme – nach unten. Riese: „Fixiert auf die Kompetenz der Geldvolumenkontrolle der Zentralbank, gelang es Keynes nicht, dieses institutionelle Moment mit seiner Präferenztheorie zu verknüpfen, kraft derer die Individuen durch ihre beschränkte Bereitschaft zur Aufgabe von Liquidität das Geldangebot steuern. Als Folge liefert er im 15. Kapitel der General Theory eine Zinstheorie, für die die Nachfrage nach Geld auf ein institutionell fixiertes Angebot trifft und der Zinssatz demzufolge der Preis für eine beschränkt verfügbare Liquidität ist, demgegenüber konzipiert er im 13. und 17. Kapitel eine Zinstheorie, in der durch die ‚Entscheidung zu horten’ der Zinssatz zum Preis für eine beschränkt aufgegebene Liquidität wird.“ [20]

Analog zur freiwirtschaftlichen Kritik an der postkeynesianischen Rezeption des „UrKeynes“ kommt Riese zu der Erkenntnis, dass die erste Zinstheorie vom Postkeynesianismus übernommen wurde, dass die zweite jedoch verschüttet geblieben ist.[21] Einer der Grundpfeiler der konventionellen Ökonomie, nämlich die Überzeugung, dass die Höhe des Zinssatzes in erster Linie durch die Geldpolitik der Zentralbank bestimmt ist, wird damit stark angegriffen und: Die Aussage ist fast deckungsgleich mit der Gesellschen, denn: Die Potenz der Zentralbank, eine allgemeine Zinssenkung vorzunehmen, wird dort ebenfalls sehr stark in Frage gestellt. Die Notenbank hat (ebenfalls ausreichende Geldversorgung vorausgesetzt) für Gesellianer prinzipiell keine Möglichkeit einer Einflussnahme nach unten. Eine expansive Geldpolitik könne den Zins nicht senken und schaffe nur noch höhere Geldhaltung bzw. ein Inflationspotential, das dann spätestens beim nächsten Aufschwung zum Tragen komme. Dieser Inflationsgefahr würde die Notenbank über kurz oder lang wiederum mit einer restriktiven Geldpolitik begegnen müssen, was wiederum die Zinshöhe entsprechend hoch stabilisiere. Abwechselnd zeichnen also Geldbesitzer und Zentralbank verantwortlich für einen ungesund hohen Zinssatz.

Keynes Rezepte einer dirigistischen und fiskalischen Krisenbekämpfung wurden von Gesellianern auch seit jeher konsequent zurückgewiesen. Aber: Offensichtlich sieht dies Riese genau so. Auch er entdeckt in der von Keynes favorisierten Politik des billigen Geldes eine Inflationsgefahr, der die Notenbank über kurz oder lang durch eine restriktive Geldpolitik begegnen müsse. Ausgangspunkt der Krise sei eine hohe Liquiditätspräferenz bei vergleichsweise niedrigem Güterzins (niedriger Profitrate). Investitionen blieben in der Folge aus, es entstehe Arbeitslosigkeit. Eine expansive Geld- und Fiskalpolitik könne daran nichts ändern, da sie nur wenig Einfluss auf die Liquiditätspräferenz – die eigentliche Quelle der Stockung – nehmen kann: „Sinkt nämlich die Liquiditätspräferenz nicht, so müssen die expansiven Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, gleichgültig, ob geld- oder fiskalpolitischer Natur, verpuffen: entweder direkt in einer entsprechenden Geldhaltung oder indirekt in steigenden Profiten, wobei über kurz oder lang das gestiegene Preisniveau zu einer Aufschaukelung von Löhnen und Preisen führt.“ [22]

Differenz zwischen Keynes und Gesell

Die Vorstellung von gestempeltem Geld ist nach Keynes’ Einschätzung ein „gesunder Gedanke“. Doch da Gesell Keynes zufolge die Vorliebe für Liquidität nicht richtig erkannte, habe er die Tatsache übersehen, „dass das Geld nicht einzigartig darin ist, dass ihm eine Liquiditätsprämie anhaftet, sondern in dieser Beziehung nur im Grad von vielen anderen Waren abweicht, und dass seine Bedeutung daher rührt, dass es eine größere Liquiditätsprämie als jede andere Ware hat.“ [23]

Das Abstempeln des Geldes würde – so Keynes – nicht den Fluchtweg in die Liquidität versperren. Die Anwendung des Stempelsystems auf Banknoten würde lediglich dazu führen, dass eine lange „Reihe von Ersatzmitteln in ihre Fußstapfen tritt – Bankgeld, täglich abrufbare Darlehen, ausländisches Geld, Juwelen und die Edelmetalle im allgemeinen ...“ [24]

Möglicherweise tut Keynes Gesell an dieser Stelle unrecht. Denn: In der Tat würde die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes verloren und womöglich auf die genannten „Ersatzmittel“ übergehen. Aber das war ja genau die Absicht Gesells, eben das Geld von seiner Potenz als Wertaufbewahrungsmittel zu „befreien“. Denn die Zahlungsmittelfunktion des Geldes würde dadurch ja nicht in Mitleidenschaft gezogen. Die genannten „Ersatzmittel“ könnten und würden das Geld als Wertaufbewahrungsmittel, als liquide Vermögensanlageform ersetzen, aber nicht deshalb notwendigerweise als Zahlungsmittel, als Mittel zum Kaufen auf dem Markt. Denn die Vorstellung, mit Edelmetallen oder Kunstgegenständen oder Immobilien einkaufen zu gehen, ist natürlich absurd. Selbst die tollste Inflation kann das Geld in seiner Funktion als Zahlungsmittel normalerweise nicht in Frage stellen. Sonst würde es die Bilder von den Geldscheinbündeln, die zu Zeiten der Hyperinflation schubkarrenweise durch die Gegend gefahren wurden, gar nicht geben. Und auch der Begriff „Zigarettenwährung“ meint weniger, dass die Menschen stangen- und kartonweise mit Zigaretten umhergelaufen sind, sondern, dass die Zigarette stabiler Wertmaßstab wurde. [25]

Gleichwohl waren wohl Keynes’ Zweifel nicht ganz unberechtigt. Warum? Zunächst einmal sei daran erinnert, was Gesell eigentlich wollte. Er wollte mitnichten das bestehende Geldsystem beibehalten und dabei die umlaufenden Noten auf die bekannte Art und Weise umlaufsichern, sondern er wollte das bestehende Geldsystem – und das bedeutete auch zu Gesells Zeiten bereits ein zweistufiges Bankensystem mit Zentralbank und Geschäftsbanken – komplett ersetzen durch ein System, in dem eine staatliche Behörde – nämlich das „Reichswährungsamt“ – nunmehr umlaufgesichertes Geld in Umlauf bringt und entsprechend Kreditgewährung nur mehr auf Basis dieses umlaufgesicherten Geldes erfolgen kann. Ein solches System ist aber eher vergleichbar mit der Vorstellung des Vollgeldes von Joseph Huber [26] und weniger mit der Vorstellung, man könne das bestehende Geldsystem getrost beibehalten und müsse es nur mit etwas Umlaufsicherungsgebühr auf Bargeld anreichern. Was könnte tatsächlich passieren, wenn – ceteris paribus, also ohne dass sich sonst etwas ändert – Freigeld eingeführt, also bestehendes Bargeld nach herkömmlicher Vorstellung umlaufgesichert wird?

Zunächst einmal gehe ich konform mit dem gesellianisch/keynesianisch orientierten Ökonomen Thomas Huth, der dargelegt hat, dass das Horten von Bargeld in entwickelten Geld- und Kreditsystemen ein vom Volumen her eher vernachlässigbares Phänomen ist. Geld entsteht in modernen Geldökonomien wie der unseren als „Schuldgeld“ per Kreditschöpfung in der Interaktion zwischen Zentralbank, Geschäftsbank und Publikum. Würde z.B. in einer Situation ökonomischer oder auch anderweitiger Unsicherheiten sich das Geschäftsbankensystem weigern, Kredite bei der Zentralbank aufzunehmen, so könnte überhaupt kein Geld entstehen. Nicht anders ist es aber dann, wenn sich das Publikum, Unternehmen oder auch Konsumenten, weigern, Kredite bei den Geschäftsbanken aufzunehmen. Die Zentralbank hätte unter den gegebenen Verhältnissen gar keine Möglichkeit, Geld entstehen zu lassen und müsste sich unter Umständen sogar damit abfinden, dass gegen ihren Willen Geld „vernichtet“ wird.[27] Verschulden sich Haushalte und Unternehmen weniger bei der Geschäftsbank und letztere entsprechend weniger bei der Zentralbank, so wird über die Kontraktion des gesamtgesellschaftlichen Kreditvolumens endogen Geld vernichtet. Das Freigeld in der dargestellten Form hätte auf das System von Geldentstehung und Geldvernichtung einer modernen Geldökonomie keinen Einfluss. Entsprechend zweifelhaft ist deshalb, ob auf dieser Schiene die Zinshöhe beeinflusst werden könnte. Deshalb ist eine notwendige, wenn auch nicht notwendigerweise hinreichende Voraussetzung für das Funktionieren einer Umlaufsicherung, dass virtuelle Geldformen einbezogen werden.

Ein ernstzunehmendes und zu diskutierendes Argument von Gegnern der Freigeldidee besteht darin, dass während der 1970er Jahre gewissermaßen ein Großversuch eines Freigeldes stattgefunden hat.[28] Denn die Inflationsraten auch in den entwickelten und ansonsten stabilen Industriestaaten waren damals teilweise so hoch, dass der Realzinssatz tatsächlich nahe Null war. Unabhängig davon, ob sich dieser monetäre Zustand nun auch tatsächlich expansiv – belebend – auf die Realökonomie, auf die Konsum- und Investitionsgüternachfrage ausgewirkt hat, bestand durchaus die Gefahr einer Hyperinflation, genährt aus Selbstverstärkungsprozessen, weil jeder Geld- und Geldvermögenshalter aus sich entwertendem Geld aussteigt, um sich vor weiteren Inflationsverlusten zu schützen, und weil die Inflation zu Kapitalflucht führt und die daraus resultierende Abwertung der heimischen Währung zu noch höherer, nunmehr Importbedingter Inflation, welche zu noch höherer Kapitalflucht führt usw.. Die Reaktionen der Zentralbanken der westlichen Industriestaaten waren schließlich die einer brutalen Inflationsbekämpfung per brutaler Zinserhöhung.

Keynes wusste um die außenwirtschaftlichen Konsequenzen einer auf Zinssenkung ausgerichteten Geld- und Fiskalpolitik einzelner Nationalstaaten. Kapitalverkehrskontrollen, nötigenfalls aber auch Güterverkehrskontrollen waren für ihn in einer solchen Konstellation zum Teil unvermeidbare Konsequenzen einer von ihm intendierten allmählichen und gewaltfreien Reform der Gesellschaft. Gesell hingegen vertraute blind und möglicherweise zu blind auf die Selbstheilungskräfte des Marktes; selbstredend nach erfolgter freiwirtschaftlicher Reform. Keynes war gegenüber dem Markt viel skeptischer und wollte deshalb eine demokratisch kontrollierte Makroregulierung des Marktprozesses in Bereichen wie Außenwirtschaft, Geldpolitik, Investitionstätigkeit, Geldlohnentwicklung.[29] Innerhalb dieses Rahmens sollten dann die positiven Elemente eines Marktsystems einen breiten Bereich von Aufgaben übernehmen und ihre segensreichen Wirkungen entfalten. Der Schwerpunkt lag aber auf dem Konzept einer gemischten Wirtschaft mit einem großen Bereich demokratisch kontrollierter halbautonomer Körperschaften. Keynes war „darauf gefasst, dass der Staat, der die Grenzleistungsfähigkeit der Kapitalgüter auf lange Sicht und auf der Grundlage des allgemeinen sozialen Wohls berechnen kann, eine immer wachsende Verantwortung für die unmittelbare Organisation der Investitionen übernehmen wird“. [30]

Aber zurück zur Ausgangsfrage: War nun Keynes der bessere Gesell oder Gesell der bessere Keynes? Weder noch. Jeder war sich selbst der Beste. Aber aus der Tatsache, dass Keynes die „Natürliche Wirtschaftsordnung“ gelesen hatte und in der Folge – wie er selbst äußerte – in der Lage war, zwischen Gesell selbst und seinen oft geräuschvollen Anhängern zu differenzieren, können wir zweierlei ableiten:
Gesell war der bessere Gesellianer!
Keynes war der bessere Keynesianer!


Anmerkungen
01 vgl. im Folgenden Betz, Thomas: Silvio Gesell und Freiwirtschaftsbewegung, unveröffentlichte Seminararbeit, wiwi. Bibliothek der FU Berlin, S. 3 ff.
02 Keynes, John Maynard: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1936, S. 196.
03 Keynes a.a.O., S. 184 f.
04 Keynes a.a.O., S. 185.
05 Keynes a.a.O., S. 317.
06 Keynes a.a.O., S. 302.
07 vgl. Betz a.a.O., S. 15 ff.
08 Gesell, Silvio: Gesammelte Werke, Band 11, S. XX, zit. nach: Darity, William jun.: Keynes’ politische Philosophie, ZfSÖ No. 116, S. 9.
09 Acratillo, J. (d.i. Silvio Gesell): Der verblüffte Sozialdemokrat, Bern 1922, S. 27.
10 Moggridge; D.E.: John Maynard Keynes – An Economist’s Biography, London 1992, S.470, zit. nach: Darity, William jun.:
Keynes’ politische Philosophie, ZfSÖ No. 116, 1998, S. 11.
11 ebda.
12 Keynes a.a.O., S. 300.
13 vgl. Betz, Thomas: Was der Euro soll und was eine internationale Währung wirklich sollte, ZfSÖ No. 117, 1998, S. 39 ff.
14 vgl. Grimminger, Michael: Keynesianismus und Freiwirtschaft, ZfSÖ No. 80, 1989, S. 4.
15 vgl. Riese, Hajo: Geld: Das letzte Rätsel der Nationalökonomie, ZfSÖ No. 104, 1995, S. 10.
16 vgl. Grimminger a.a.O., S. 4.
17 Davidson, P.: Money and the Real World, London 1972, zit. nach: Grimminger, Michael: Keynesianismus und Freiwirtschaft, ZfSÖ No. 80, 1989, S. 4.
18 Riese, Hajo: Keynes als Kapitaltheoretiker, Kredit und Kapital, No. 2/1987, S. 159.
19 Riese, Hajo: Theorie der Inflation, Tübingen 1986, S. 65 f.
20 ebda, S. 61.
21 vgl. Grimminger a.a.O., S. 8.
22 Riese, Hajo: Aspekte eines monetären Keynesianismus – Kritik und Gegenentwurf, in: Postkeynesianismus: Ökonomische Theorie in der Tradition von Keynes, Kalecki und Sraffa, Marburg 1987, S. 195.
23 Keynes a.a.O., S. 302.
24 ebda.
25 In Bolivien sind die Preise sehr häufig in US-Dollar ausgezeichnet. Dennoch wird die Rechnung typischerweise in Bolivianos beglichen, aber die Preisschilder müssen nicht so häufig ausgetaucht werden.
26 Huber, Joseph: Vollgeld, Berlin 1998.
27 vgl. auch Herr, Hansjörg: Einige kritische Thesen zu Silvio Gesells Freiwirtschaftslehre aus Keynesscher Sicht, ZfSÖ No. 73, 1987, S. 12.
28 vgl. ebda., S. 13.
29 Vgl. ebda., S. 14.
30 Keynes a.a.O., S. 138.

Aus: Zeitschrift für Sozialökonomie | Folge 146 | September 2005