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An Sigmund Flückinger vom 15.10.1915 aus Les Hauts Geneveys


Sehr geehrter und lieber Herr Flückinger!

Ihren gehaltvollen Brief vom 27. v. M. empfing ich hier auf dem Umweg über Eden. Mit rechter Freude und mit einer gewissen Beruhigung erfuhr ich von der Gründung des Schweizerischen Freiland-Freigeld-Bundes. So ist’s recht. Der volle Arbeitsertrag, der restlos volle Arbeitsertrag, die vollkommene Ausmerzung des arbeitslosen Einkommens! So wird’s gut. Und ich darf mich gleich als sein Mitglied und sogar als Ehrenmitglied betrachten eines Bundes, der so tapfer ausschreitet auf ein so gewaltiges Ziel! Nun, ich nehme diese große Auszeichnung an als Anerkennung der Ehrlichkeit meines Strebens und als Ermunterung, treu auszuharren in den kommenden Kämpfen, „so lange noch eine Ader in mir lebt“.


An Prof. Dr. Ernst Haeckel vom 28.6.1916 aus Berlin-Lichterfelde, Dahlemer Str. 28

Hochgeehrter Herr!

Es ist eine gefährliche Sache, den Kampf ums Dasein, den die Lebewesen brauchen, mit den Kriegen der Menschen zu vergleichen. Gefährlich, weil der Vergleich erfahrungsmäßig zu einer biologischen Begründung des Krieges missbraucht wird und damit die Friedensarbeit erschwert.

   Kriege gibt es doch nicht in der Natur; sogar die sog. Ameisenkriege entbehren aller Kennzeichen menschlicher Kriege. Man sieht niemals, dass sich Tiere derselben Art zusammentun, um über eine andere Gruppe derselben Art herzufallen. Der Kampf zwischen Tieren derselben Art beschränkt sich auf den Zweikampf und gibt dadurch regelmäßig dem Tüchtigsten den Sieg, während der Krieg das Beste vernichtet. Dem Tüchtigsten gehört die Welt und soll sie gehören, der Krieg kann dagegen die Menschheit nur dem Untergang entgegenzüchten. Übrigens beweist ja schon der Umstand, dass sich der Feind durch künstliche Farben und Uniformen kenntlich machen muss, dass die Menschheit mindestens bis zur Erfindung der Uniform (Tätowierung etc.) keine Kriege zu ihrer Entwicklung bedurfte. Zieht man den Soldaten die Röcke aus, so hat der Krieg sofort ein Ende. Und die Uniform kann man doch nicht als Ausleseelement betrachten.

  Weil der Krieg keine biologische Erscheinung ist, aber auch nur darum, ist auch Ihre in den „Weltkriegsgedanken“ ausgesprochene frohe Hoffnung berechtigt. Als rein menschliche, unserer irrenden Vernunft (Handelskrieg!!) entsprungene Handlung können wir selbstredend aufgrund besserer Erkenntnisse die Kriege vermeiden. Fehlerhafte menschliche Einrichtungen, falsche Beobachtungen, keine animalischen Triebe sind es, mehr nicht, die uns die Waffe als ultima ratio in die Hand drücken. Namentlich unser mangelhaftes, uraltes Geldwesen wie auch der Privatgrundbesitz sind es, die die Menschen und Völker verhetzen. Wie das zugeht, finden Sie in der beiliegenden Druckschrift „Gold und Frieden?“ näher auseinandergesetzt.

   Wenn Sie, hoch geehrter Herr, den Wesensunterschied, der zwischen Krieg und Kampf ums Dasein liegt, durch ihre Autorität den in der Kriegspropaganda biologisch Orientierten stärker noch zum Bewusstsein brächten, so würden Sie dem unglücklichen kommenden Geschlecht das Leben erleichtern, dem Friedenswerk einen unermesslichen Dienst erweisen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Silvio Gesell

An den Herrn Präsidenten des Sowjet
Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin, St. Petersburg
vom 2.12.1917 aus Les Hauts Geneveys*

Liebwerter Genosse!

Wenn jetzt aus Millionen banger Menschenherzen Dankgebete zum Himmel steigen, so ist das Ihrem und Ihrer mutigen Freunde Wirken zu verdanken. Und zitternd fragen sich alle wieder, ob es gelingen wird, das große Werk der Revolution vor den im Geheimen wirkenden Kräften der Reaktion unter Dach und Fach zu bringen.

   Wir haben in dieser Beziehung doppelte Sorgen. Wir sagen uns: Lenins Werk wird an den Mängeln des Geldwesens scheitern. Alle Revolutionen sind bisher am Geldwesen gescheitert; auch die russische wird diesem Schicksal nicht entgehen, wenn nicht noch rechtzeitig das Freigeld die Situation rettet.

   Vergessen Sie nicht, dass das Geld das Blut der Volkswirtschaft ist und dass dieses Blut in der herkömmlichen Form des Geldes vergiftet ist und den ganzen Organismus vergiften muss.

   Der Schweizer Freiland- und Freigeld-Bund erstrebt die Einführung eines neuartigen Geldes, das der Menschheit alle die gewaltigen Vorteile der Geldwirtschaft sichert und frei ist von allen den Kapitalismus ausmachenden Begleiterscheinungen. Muster dieses neuen Geldes liegen bei. Es gibt dieses Geld den Fragen, die durch die Untersuchungen des Sozialisten Proudhon aufgeworfen wurden, die theoretische und praktische Lösung.

   Von den Hauptwirkungen dieses Geldes – auf Seite 3 – 4 aufgeführt – wollen wir hier nur die eine erwähnen, nämlich dass das Freigeld einen ständig wachsenden Druck auf den Kapitalzins ausübt, in der Weise, dass in einem Zeitraum von etwa 15 – 20 Jahren der Zins gänzlich aus der Volkswirtschaft ausscheiden muss.

   Wenn der Erfolg einer Revolution dauernd gesichert werden soll, so kann dies nur dadurch erreicht werden, dass alle nicht aktiv an der Umgestaltung des Staates mitwirkenden Personen unter Anspannung aller Kräfte zur Arbeit zurückkehren, denn aus dieser Arbeit soll der Wohlstand erwachsen, der für die Masse das Zeichen ist, dass die Revolution wohltätige Wirkungen hat und darum zu unterstützen ist. Eine Revolution, die dem Volke Entbehrungen bringt, ist des Misserfolges sicher.

  Nun würde das von uns geschaffene Freigeld ganz außerordentlich anspornend auf die Arbeit wirken, indem es den Tausch der Produkte unter allen Umständen sichert und dadurch erst jedem den vollen Ertrag der persönlichen Arbeit gewährleistet – und das ist Vorbedingung für alle Arbeit.

   „Unsere Vertrauensmänner machen Revolution – jetzt ist Arbeit die erste Pflicht aller, die diese Revolution unterstützen wollen.“ So soll es jetzt im ganzen Russland heißen.

   Das Freigeld würde diese Arbeit auslösen und ganz automatisch in die richtigen Bahnen lenken. Das jetzige Geld, der Papierrubel, stört die Arbeit; es hemmt sie statt sie anzuregen und zu fördern. Die Unsicherheit macht übrigens auch jede Disposition unmöglich. Und ehe der Unternehmer sich einem Defizit aussetzt, legt er lieber seine Fabrik still, wodurch der Volkswirtschaft und der Revolution die Mitwirkung oft der tüchtigsten  Männer genommen wird. Und ohne die Mitwirkung dieser erfahrenen Männer ist die Revolution dem Misserfolg geweiht.

   Es gibt Männer, die beim bloßen Anblick des Freigeldes seine ganze ungeheure Tragweite überschauen, denen es eine ganze neue Welt eröffnet. Diese sind jedoch sehr selten. In der Regel ist es nötig, die gegen das Freigeld erhobenen Bedenken, die immer nur Vorurteilen entstammen, durch methodische Aufklärung zu zerstreuen. Diese Arbeit ist in einem größeren Werk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ erschöpfend ausgeführt worden. Da aber die Zeit zum Theoretisieren nicht die geeignete ist, so machen wir der russischen Regierung den Vorschlag, auf unsere Kosten eine geeignete Persönlichkeit nach Petersburg zu schicken, um das System im mündlichen Vortrag auseinanderzusetzen und um die nötigen Anweisungen zur Ausführung der Reformen zu geben. Weitere Vorbereitungen sind nicht nötig. Acht Tage nach dem Beschluss würde schon das Freigeld im Umlauf sein können und seine beruhigenden, Arbeit fördernden Wirkungen ausüben. Und wenn dann zusammen mit der Einführung des Freigeldes die Regierung eine öffentliche Anleihe ausschreibt, so würde sie damit einen ganz gewaltigen Erfolg erzielen – bei einem Minimalzinsfuß würden Anleihen für den Gesamtbetrag des bisher ausgegebenen Papiergeldes gezeichnet werden, was der Regierung erlauben würde, das jetzige Rubelgeld restlos zu verbrennen und so mit einem Schlag in währungstechnischer Beziehung der Regierung die ihr entfallenen Zügel zurückgeben. Zu erwähnen ist noch, dass das Freigeld keinerlei besonderer Deckung bedarf, dass also die Goldreserven des Rubels restlos abgestoßen werden können.

   Falls Sie auf unseren Vorschlag eingehen, wollen Sie an die Adresse von Herrn Dr. Fritz Trefzer, Bern, Wabernstr. 16, das Wort „Einverstanden“ telegrafieren.

Mit revolutionären Grüßen
Schweizer Freiland- und Freigeld-Bund
Silvio Gesell

*  Dieser Brief hat Lenin nie erreicht. Vgl. hierzu auch den Band 18 von Gesells Gesammelten Werken, wo auf der Seite 165 ein von Werner Schmid in seinem Buch „Silvio Gesell – Lebensgeschichte eines Pioniers“ (Bern 1954, S. 175) erwähntes Begleitschreiben zitiert ist, das einer Sendung der „Natürlichen Wirtschaftsordnung“ an Lenin beigelegen habe.



An Heinrich Patt vom 15.1.1921 aus Rehbrücke*

Mein lieber Kampfgenosse!

Das Bild ist ausgezeichnet gelungen. Namentlich die beiden Adler sind in ihrer Stellung vorzüglich. Überhaupt die ganze Anlage des Bildes. Und ich bin sehr froh, ein solches Bild zu besitzen und einen solchen Künstler in unserer Mitte zu wissen.

   Wir werden dieses Bild (bunt) zur Illustrierung der „Freiland-Fibel“ gebrauchen. Für den „Kettenbrecher“ brauchen wir ein einfarbiges Bild (schwarz) und da wären namentlich die Lichtwirkungen zu berücksichtigen. Auch müsste die Erde inmitten des Sternenhimmels dahin schweben, etwa wie im „Faust“. Also die Erde in der Größe, wie Sie sie gezeichnet haben – der Mond, ein Komet, Sterne. Die Lichtquelle (Sonne) unsichtbar. Das Ganze von der Sonne aus betrachtet. Dementsprechend auch die Schatten auf der Erde, die Mondphasen und der Kometenschweif, der immer der Sonne abgewendet steht.

   Beim gefesselten Menschen muss darauf geachtet werden, dass die Schwerkraft die Ketten nach dem Zentrum zieht, nicht etwa nach ‚unten’, nach dem Südpol. Der Mensch dürfte passend mehr sehnig als gut genährt gezeichnet werden.

   Ich schicke hier ein Bild des Sternenhimmels, das Ihnen vielleicht nützlich sein kann. Die Beleuchtung der Erde dürfte zweckmäßig der des Mondes (fig!) entsprechen, der Himmel wie in fig (Komet).

   Ich bemerke, dass ich nichts von der Zeichenkunst verstehe, so dass das, was mir eben vorschwebte, vielleicht überhaupt nicht darstellbar ist. Ich bewundere Ihre künstlerische Gestaltungskraft, wundere mich, dass Sie mich (…) und bin überzeugt, dass das Bild, das Sie nun schaffen wollen, mit dazu beitragen wird, die uralten, unverrosteten Ketten der Menschheit zu brechen.

Hurra! Mit Bundesgruß
Gesell

* Heinrich Patt war ein an der Kunstakademie Düsseldorf ausgebildeter Maler und Kunsterzieher.



An Heinrich Patt vom 26.1.1921 aus Rehbrücke

Mein lieber Bundeskamerad!

Wenn die Erdkugel zwischen den Gestirnen dahin schweben soll, dann muss die Sachlage auf der Erde sehr einfach gestaltet werden, wenn es nicht zu optischen Widersprüchen kommen soll. Ich glaube darum, dass wir auf die Adler verzichten müssen, auch darauf, dass der gefesselte Mann sichtbar am Zerbrechen der Ketten arbeitet. Es muss dann eine Menschengestalt hilflos mit schweren Ketten an die Erde geschmiedet sein. Die Hilfe kommt ihm dann von außen – eben vom „Kettenbrecher“ – und ist darum auf dem Bild nicht sichtbar. Die Menschengestalt müsste m.E. in diesem Falle ganz platt auf dem Rücken liegen mit gespreizten Armen und Beinen – das Bild vollkommener Hilflosigkeit und Ergebung und Hoffnungslosigkeit. Also schon fast wie ein Toter.

   Die Hauptschwierigkeit wird wohl die richtige Beleuchtung bilden, so dass das Erdbild in den Sonnenkreis hineinpasst. Durch seitliches Licht, mit starker Schattenbildung, ähnlich wie auf dem gesandten Mondbild dürfte das am besten zu erreichen sein. Vielleicht müsste die Menschengestalt darum auch nur schwach hervortreten?

   Das Bild, das Ihnen vorschwebt mit den beiden Adlern, wäre sicherlich ein gutes Motiv für ein größeres Bild. Es setzt auch schon gerade die Kenntnisse voraus, für die wir kämpfen. Es wird also das nächstfolgende Bild sein. Also zunächst das Bild des Kettenträgers in der eben angedeuteten Lage.

   Da ich nicht Zeichner bin, so muss ich Ihnen die zeichnerische Gestaltung ganz überlassen. Sie werden, davon bin ich überzeugt, auch das Richtige treffen.

Dem Ergebnis Ihres Kunstsinnes und Fleißes mit Freude entgegen sehend
Gesell


 
An Heinrich Patt (undatiert, März 1921)

Lieber Freund und Kamerad!

Das prächtige Bild des „Kettenbrechers“ ist pünktlich eingetroffen. Ich sandte es an Haacke in Erfurt und wir überlegen, wie wir es verwenden werden. Für den Kopf des „Befreiers“ konnte es leider nicht verwendet werden. Für das grobe Zeitungspapier gehört ein gröberer Strich. Dass Sie uns die Verwertung des Bildes so einfach kostenlos überlassen, zeugt für die Schönheit der Bestrebungen, die Sie durch Ihre Tat fördern wollen.

Ihnen herzlich dankend und frohe Ostern wünschend
Ihr Silvio Gesell

An Fritz Bartels vom 2.9.1921 aus Rehbrücke

Sehr geehrter Herr Bartels!

Ich erhielt gestern die freundliche Einladung zum Vertretertag in Hannover. Zugleich erhielt ich auch die Aufforderung von Herrn Groß, ein Programm zu verfassen. Und mit derselben Post auch die „Freiwirtschaft“, aus der ich ersehe, dass der Westgau und die Stettiner Gruppe die „Sieben Punkte“ zum Programm erheben.

   Das, was wir erstreben, greift so tief in alle Verhältnisse ein und setzt so vieles voraus, dass es nicht anders gehen wird als es in ein vollständiges Regierungsprogramm einzubauen, wenn wir nicht darauf hinausgehen wollen, in der entscheidenden Stunde viele unserer eigenen Anhänger zu überraschen, was dann verhängnisvoll werden könnte. In Kassel waren, so weit ich mich erinnere, die Ansichten geteilt über die Zweckmäßigkeit, den Inhalt der Worte FREILAND – FREIGELD im Programm scharf zu umreißen. In der Zwischenzeit haben sich aber die politischen Verhältnisse außerordentlich getrübt. Wirth scheint nicht die Macht zu haben zu den nötigen durchgreifenden Maßnahmen und eine andere Regierung als die jetzige, die arbeitsfähiger wäre, ist kaum denkbar.

   In Anbetracht dieser Lage und im Hinblick auf die Möglichkeit, dass wir die Gewerkschaften, die Bauernorganisationen und auch manche Handels- und Handwerkerkammer für uns gewinnen können, wenn wir ihnen ein fertiges Regierungsprogramm vorlegen können, rechne ich mit der vielleicht noch sehr kühn erscheinenden Möglichkeit, dass wir nach der Abdankung Wirths (bei Gelegenheit des neuen Steuerplanes) die Reichsgeschäfte werden in die Hand nehmen müssen, weil sich sonst niemand dazu bereit finden wird.

   Ich schicke Ihnen anbei den Entwurf für ein solches Regierungsprogramm und wenn Sie glauben, dass derselbe in Hannover zur Annahme gelangen könnte, so bitte ich Sie, mich zu benachrichtigen. Dann werde ich der Einladung folgen, um einzelne Punkte des Programms näher zu begründen.*

   Ich glaube, dass – wenn Sie die Besprechung des Programms als ersten Punkt der Tagesordnung aufstellen, im Laufe der Besprechung sich so vieles klären und so viele Missverständnisse heben werden, dass auch die Organisationsstreitigkeiten spielend erledigt werden können. Mit der Annahme dieses Programms bekämen unsere Leute bei ihrer Werbung um die Gewerkschaften ein außerordentlich wirksames Werkzeug in die Hand.

   Wollen Sie mir bitte Ihre Meinung hierüber mitteilen, damit ich mich je nach dem weiter vorbereiten kann. Es fehlen im Programm noch einige Abschnitte, an deren Ausarbeitung ich gerade bin.

Mit Bundesgruß stets der Ihre

*  Vgl. die Kundgebung „An das deutsche Volk“ in Hannover im Band 12 der Gesammelten Werke, S. 297–316.

 

An Hildegard Wegscheider vom 22.2.1922 aus Rehbrücke*

Sehr geehrte Frau Wegscheider!

Es ist ein Glück für die Sozialdemokratie, dass die Loslösung von der Koalition und von der Regierung auf so billige Weise erreicht wurde. Mit dem kommunistisch-marxistischen Programm kann die Sozialdemokratie die Regierung niemals übernehmen, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen. Vom Kapitalismus führt kein gangbarer Weg zum Sozialismus, wie ihn die Sozialdemokratie heute noch versteht. Jetzt stehen die Genossen und Genossinnen wieder vor dem Berg – wie vor 1914. Mit dem Verlust einer Hoffnung allerdings, aber mit dem Gewinn der Erfahrung, dass die Eroberung der politischen Macht ohne ein sofort in allen Teilen durchführbares Wirtschaftsprogramm wertlos ist. Jetzt, nach der Erstürmung des Berges wissen sie nun, dass sich hinter dem Berg neue steilere Berge erheben.

   Es ist keine Schadenfreude, trotzdem aber reine Freude, die ich über diese Entwicklung empfinde. Jetzt wird die Sozialdemokratie in sich gehen müssen und die Richtung gebenden Sätze ihres Programms überprüfen. Sie wird Bernsteins vorzeitig im Interesse der Agitation unterbrochene Arbeit wieder aufnehmen müssen. Revisionismus. Es ergeht hier den Sozialdemokraten wie es Lassalle erging, der seufzend darüber klagte, wie die Agitation ihn davon abgehalten hatte, der Theorie die nötige Zeit zu widmen. Der Misserfolg hat die Voraussetzungen der marxistischen Lehre vom Kapital ihrer Selbstverständlichkeit entkleidet und nun wird Bernstein die Bahn frei haben. Allerdings wird man sich beeilen müssen, wenn man nicht will, dass die sozialdemokratische Organisation in Staub zerfällt. Der Freiwirtschaftsbund würde zwar in diesem Fall den Staub wieder sammeln, aber ich sehe nicht ein, warum man eine solche Organisation erst zerfallen lassen muss, um sie neu zu sammeln. Der Freiwirtschaftsbund strebt nur danach, den Arbeiterorganisationen bessere, schärfere Waffen zu geben. Er will keine Organisation, er will das Ziel.

   Es wird wohl das Beste sein, wenn Sie selbst, sehr geehrte Frau, die ‚Fühlungnahme’ Falkenberg – Gesell weiter bis zum Ergebnis betreiben. Falkenberg wird dann nicht so leicht kneifen können. Es ist nämlich geradezu komisch, welche heilige Scheu so gut wie alle Männer vor der Währungsfrage hegen. Sie glauben, sie müssten als verständige Menschen diese Fragen a priori entscheiden können. Und wenn sie merken, dass das nicht geht, glauben sie bei sich einen geistigen Defekt entdeckt zu haben, der sie verbergen müssen.

   Ich erwarte also in dieser Sache weitere Nachrichten von Ihnen und freue mich inzwischen über diesen ersten Erfolg Ihrer Bemühungen. Ich habe jetzt eine „Denkschrift für die Deutschen Gewerkschaften zum Gebrauch bei ihren Aktionen in der Frage der Währung, der Valuta und der Reparationen“ in Arbeit und in Druck. Sie wird in wenigen Tagen erscheinen und, wie ich annehme, gute Dienste der Arbeiterbewegung leisten. Es sind 160 Seiten.

   Mit der Rechtsschwenkung der Regierung werden Sie nun wieder damit rechnen müssen, dass die Kirche weiteren Einfluss auf die Schule zurückerobern will. Aus diesem Grunde sende ich Ihnen hiermit eine kleine Schrift „Kannte Moses das Pulver?“, die ich vor Jahren verfasste, die ich aber aus dem Verkehr zog, weil sie meine anderen Bestrebungen, die ich für wichtiger halte, hemmte. In Ihrem Kampfe mit der Reaktion werden Sie diese Schrift sehr gut verwenden können, denn bis jetzt habe ich noch keinen Fall erlebt, dass jemand nach Durchsicht der Broschüre nicht völlig von der Richtigkeit meiner Schlüsse überzeugt gewesen wäre. Mein Name müsste aber aus der Schrift entfernt werden.

In größter Hochschätzung
Ihr ergebener Silvio Gesell

*  Dr. Hildegard Wegscheider gehörte von 1919–1921 für die SPD der verfassunggebenden preußischen Landesversammlung an und war danach SPD-Abgeordnete im preußischen Landtag.

 

An Reichskanzler Dr. Joseph Wirth vom 3.3.1922 aus Rehbrücke

Wie verschaffen wir der Reichsregierung die nötige Macht und Gewalt zu den durchgreifenden Maßnahmen auf finanziellem Gebiet, die zur Rettung von Staat und Volk unerlässlich geworden sind? Diese Frage stellt sich heute jeder, der die Gefahr erkannt hat, in der der Staat und mit ihm er selber schwebt.

   Dass es mit Parteikoalitionen, bei denen der eine Teil nach rechts und der andere nach links zielt, nicht geht, das haben Sie uns, Herr Reichskanzler, durch Ihren wiederholt angebotenen Rücktritt klar genug gezeigt. Es ist erwiesen, dass eine kapitalistisch orientierte Regierung, die nichts anderes erstreben will noch kann als die Wiederherstellung der alten Zustände, an der Empörung der Massen, am verzweifelten Widerstand von Tausenden von Desperados in führenden Stellungen von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist (siehe Kapp). Es ist aber auch ebenso klar erwiesen, dass das Programm dieser Massen – SPD-USDP-KPD – der Natur des Menschen widerspricht und für unsere auf Weltwirtschaft angewiesene Volkswirtschaft nicht in Betracht kommen kann (siehe Russland).

   Die Linke versagt also – die Rechte versagt auch. Die Koalition versagt. Zugleich aber ist eine starke, schlagfertige Regierung nie nötiger gewesen als heute. Bedenkt man, dass unter den Koalitionsregierungen der letzten drei Jahre das Vermögen der Gläubiger im Betrag von 180 Milliarden Goldmark auf ebenso viel Papiermark hinab verwirtschaftet worden ist, so erkennt man, dass wir russischen Zuständen zutreiben, die für ein Industrievolk wie das unsrige den Tod bedeuten.

   Das Floß, auf dem wir treiben, das Sie, Herr Reichskanzler, führen, wird uns nur noch kurze Zeit eine Zuflucht sein können. Im Mahlstrom der Valutaschwankungen und Börsendifferenzen wird dieses Floß an den Klippen von Hungerrevolten zerrissen werden. Schon jetzt wird es nur dadurch flott gehalten, dass wir in erschreckend wachsendem Maße Greise, Kranke, Kinder, Rentner zu Tausenden über Bord gehen lassen.

   Wir brauchen eine starke Regierung, Herr Reichskanzler! Hie Kapitalismus – hie Sozialismus, eine Koalition mit diskrepierenden Tendenzen. Eine unlösbare Aufgabe. Es muss also, soll das deutsche Volk aus dem Engpass heraus, etwas grundsätzlich Neues geschehen – etwas, was weder Kommunismus noch Kapitalismus ist und für das die politische und wirtschaftliche Unterstützung des gesamten werktätigen Volkes gesichert werden kann.

   Das in beiliegendem „Sammelruf“ skizzierte und in der mitgehenden Literatur entwickelte freiwirtschaftliche, antikapitalistische Programm zeigt dieses Neue. Der „Sammelruf“ zielt nicht auf eine Parteikoalition, sondern auf eine Koalition aller schaffenden, werbenden, sorgenden, aufbauenden Volkskräfte. Und was heute noch besonders interessant ist: er liefert in seinen Richtung gebenden Grundsätzen die Elemente für ein Programm für Genua, das, wenn es mit Entschlossenheit vertreten wird, der übrigens völlig ratlosen Entente die Führung entreißen und der deutschen Regierung die Unterstützung aller freien Geister der Welt und namentlich auch aller proletarischen Organisationen sichern würde, womit dann auch die weltpolitische Situation für eine Nachprüfung des Friedensvertrags geschaffen würde.

   Bei der Hinaussendung dieses „Sammelrufes“ ziemt es sich, dass ich das erste Exemplar dem ersten Staatsmann des Reiches in die Hände reiche. Sollten Ihnen, Herr Reichskanzler, mündliche Erklärungen erwünscht sein, so bin ich dazu selbstredend zu jeder Zeit bereit.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung
Silvio Gesell

 

An Hildegard Wegscheider vom 22.11.1922 aus Rehbrücke

Sehr geehrte Frau Wegscheider!

Ich habe mir allerdings sehr viel Mühe gegeben – seit vielen, vielen Jahren - , um in die Massen etwas Verständnis für die Bedeutung des Geldwesens zu tragen. Zwar nicht ohne Erfolg, aber doch nicht mit dem heute nötigen durchschlagenden Erfolg. Darum freue ich mich ganz außerordentlich, dass Sie, sehr geehrte Frau, mir Ihre Hilfe antragen. Ich denke übrigens, dass das, was Sie zu tun in der Lage sind, genügen wird, um den Stein ins Rollen zu bringen. Es ist sonst alles zur Tat vorbereitet. Es fehlt nur die Unterstützung des Proletariats, desselben Proletariats, dem die Aktion dienen soll.

   Ich werde morgen, Sonntag, den ganzen Tag zu Ihrer Verfügung sein und auch nächsten Montag. Sollte das Wetter für Sie etwa zu unwirsch werden, dann bin ich auch bereit, Ihnen nach Berlin entgegenzufahren. Morgen früh werde ich dann noch zwischen 9 und 10 telefonieren.

Mit dem Ausdruck größter Hochachtung
Ihr Silvio Gesell

 

An Hildegard Wegscheider vom 25.11.1922 aus Rehbrücke

Sehr geehrte Frau und liebe Genossin im Kampfe gegen den Kapitalismus!

An die von Ihnen genannten Personen werde ich die Einladung zu der Zusammenkunft am 1. 12. gleich verschicken. Mehrere Gewerkschaften sollen schon ihre Bereitschaft erklärt haben.

   Sie leisten hier einer großen vielversprechenden Sache einen mächtigen Vorschub. Fahren Sie so fort! Ich habe das Empfinden, dass es diesmal etwas wird mit der Einheitsfront des Proletariats.

Hocherfreut grüßt Sie
Ihr ergebener Silvio Gesell

 

An den Internationalen Gewerkschaftsbund in Haag vom 20.12.1922 aus Rehbrücke

Sie erhalten mit gleicher Post ein Exemplar einer „Denkschrift für die Deutschen Gewerkschaften zum Gebrauch bei ihren Aktionen in der Frage der Währung, der Valuta und der Reparationen“. Diese Denkschrift ist zwar für die augenblicklichen deutschen Verhältnisse verfasst, greift jedoch in vielen Beziehungen weit über die deutschen Grenzen hinaus. Sie finden dort positive Vorschläge zur Lösung der Währungsfrage im antikapitalistischen Sinne.

   Sollte diese Schrift bei Ihnen genügend Interesse erwecken, um bei Ihnen den Wunsch aufkommen zu lassen, mehr von dieser Angelegenheit zu erfahren, so bin ich gern bereit, Ihnen einen Referenten zu nennen, der Ihnen dort den Plan in mündlicher Darstellung entwerfen wird, wie auf dem Wege der Gewerkschaften mit Unterstützung des Internationalen Gewerkschaftsbundes und unter Führung desselben die Macht des Geldes gebrochen und die Valutafrage und Währungsfrage im Sinne der Arbeit und des Friedens gelöst werden kann. Sollten Ihnen zum Studium dieser Angelegenheit noch einige Exemplare der Denkschrift erwünscht sein, so werde ich Ihnen dieselben gerne und auch kostenlos zusenden.

Veuiliez Messieurs agreer l’assurance de ma parfaite consideration
Silvio Gesell

 

An Reichskanzler Dr. Gustav Stresemann am 30.8.1923 aus Rehbrücke

Sehr geehrter Herr,

Ihre große Rede und namentlich der in ihr angeschlagene glückliche Ton in der Reparationsfrage ermuntert mich, Ihnen das anliegende Heft ‚Die Freiwirtschaft’ zu übersenden und Ihre Aufmerksamkeit auf die die Reparationsfrage behandelnden ersten beiden Artikel zu lenken. Ich mache Sie besonders auf die Tatsache aufmerksam, dass die einflussreiche große Zeitung ‚L’Eclaireur du soir’ meine Vorschläge als Erfolg versprechend bezeichnet und fördert und dass auch bereits der ‚Temps’ (Paris), von der Redaktion des ‚L’Eclaireur du soir’ angeregt, ähnliche Vorschläge macht. Das Warten auf die Revision des Versailler Diktates hat uns bereits viel mehr geschadet als die weitestgehende Revision uns nutzen könnte, wie auch die in England noch herrschende und in Amerika jetzt überwundene Arbeitslosigkeit beiden Ländern mehr geschadet hat als der Gesamtbetrag der von Deutschland erwarteten Reparationen ausmacht. Der von mir gemachte Vorschlag würde uns ermöglichen, ganz auf alle Revisionen des Vertrages zu verzichten und diesen unter erträglichem Druck nach dem Buchstaben zu erfüllen, wobei die Nebenerscheinung zur Hauptsache wird, nämlich dass die Weltwirtschaft sofort wieder in Vollbetrieb kommen würde.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Silvio Gesell

 

An den Reichsbankpräsidenten Dr. Hjalmar Schacht vom 30.12.1923 aus Rehbrücke

Sehr geehrter Herr,

es dürfte für die Führung Ihres Amtes bedeutsam sein, über eine Lösung der Valutafrage rechtzeitig unterrichtet zu werden, die jetzt in Frankreich in Angriff genommen worden ist und worüber die beiliegende Abschrift eines mir zugegangenen Zirkulars Aufschluss gibt.

   Die Lösung entspricht in allen Einzelheiten den Vorschlägen, den ich selbst der deutschen Regierung vor nunmehr drei Jahren machte, auf den aber bis zur Stunde in keiner Weise reagiert wurde. In den anliegenden Schriften, die ich hiermit der Bibliothek der Reichsbank stiften möchte, werden Sie den Vorschlag von vielen Seiten aus beleuchtet finden. Über das Spiel einer internationalen Währung werden Sie in der gleichfalls beiliegenden Broschüre „Das Monopol der Schweizerischen Nationalbank“ Beachtenswertes finden. Sollten Sie, um Zeit zu gewinnen, sich lieber einen Vortrag halten lassen über das in Rede stehende System, so bitte ich Sie, sich an den Geschäftsführer des Freiwirtschaftsbundes, Herrn Hans Timm in Berlin, Rosenthaler Str. 40-41 zu wenden. Auch gestatte ich mir, Sie bei dieser Gelegenheit auf die Tagung des Freiwirtschaftsbundes aufmerksam zu machen, die am 9. Januar im Herrenhaus beginnt und wo man sich gründlich mit der Währungs- und Valutafrage beschäftigen wird.

   Die Währungs- und die Valutafrage verlangen eine synchronische Lösung und die besondere Lage Deutschlags verlangt eine schnelle Lösung. Von Ihrer Seite könnte der Lösungsprozess dadurch außerordentlich beschleunigt werden, dass Sie Ihren Einfluss benutzten, um die deutsche Presse zu einer allgemeinen Besprechung des im Zirkular gemachten Vorschlages zu veranlassen. Noch besser wäre es, wenn Sie offiziell eine Kommission zur Prüfung des Vorschlages bestellten. Die Vorgänge im Rheinland zeigen, wie viel mit der ungelösten Währungs- und Valutafrage auf dem Spiel steht.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Silvio Gesell

 

An Jenny Blumenthal vom 8.10.1924 aus Punta Chica/Buenos Aires

Jenny, Jenny,
nun bin ich schon acht Tage hier in Punta Chica, doch erst jetzt geht ein brauchbarer Dampfer nach Europa. Meine Karte aus Las Palmas wirst du wohl erhalten haben. Von dort ab bis hierher hielt das Schiff nicht mehr. Fast drei Wochen dauerte dann die Reise noch. Aber sie verlief sehr gut. Schiff und Verpflegung waren gut und die Gesellschaft auch. So kamen alle dick und gesund hier an. Auch die Behörden machten keine Schwierigkeiten. Und es scheint, dass die deutschen Auswanderer hier gern gesehen werden. Man erwartet viel von ihnen.

   Die Stadt hat sich in den 10 Jahren meiner Abwesenheit gewaltig entwickelt. Es bleibt mir rätselhaft, dass sie das in meiner Abwesenheit tun konnte. Man ersieht hieraus, wie überflüssig man im Grunde ist. Der Automobilverkehr ist ganz gewaltig. Die breite Avenida de Mayo ist immer ganz voll gestopft von Autos. Ganz selten noch sieht man ein Pferd. Die Geschäfte heben sich übrigens ein wenig. Fridolin hatte im September einen Rekordmonat. Sein Geschäft hat sich übrigens gut entwickelt. Er arbeitet mit 45 Angestellten und hat ein gewaltiges Lager. Sein Töchterchen ist jetzt ein Jahr alt und ist ein recht liebes und gut entwickeltes Kind.

   Gleich am ersten Tag meiner Ankunft habe ich mich an die Arbeit gemacht, mein Grundstück für den Verkauf herzurichten. Es ist ein wunderschöner Park geworden, schöner als ich selbst es erwartet hatte. Die Bäume sind ganz kolossal gewachsen. Der Stamm einer Phönix-Palme hat fast drei Meter Umfang und viele andere Bäume sind da, die ich nicht umarmen kann (faute de mieux). Die Coruña brachte übrigens auch den Frühling mit ins Land und jetzt blühen alle Sträucher. Ich werde diese Frühlingszeit benutzen, um das Grundstück zum Verkauf zu bringen. Am Tage meiner Ankunft wurde übrigens der Plan einer großen Promenade, die von Buenos Aires aus am La Plata-Ufer sich hinziehen soll und die hart an meinem Grundstück vorbei soll, von den Stadtverordneten genehmigt. Das hebt nun den Wert meines Grundstücks außerordentlich.

   Bei meiner Ankunft fand ich Deinen Brief vor, der mir die Tage der Abfahrt lebhaft in die Erinnerung zurückrief. Ich freute mich, Jenny, Du Liebe, dass Du mich nicht also gleich vergessen hast. Ich überlege hin und her, ob es für Dich und Hans und Hanna und Maria gut wäre, wenn Ihr hierher kämet. Im Sommer wird es heiß hier und ich weiß nicht, ob Ihr solches Klima mit Vorteil vertragen würdet. Sonst glaube ich, dass Du hier schnell ein gutes Geschäft würdest führen können und dass Ihr alle die Sprache schnell erlernen würdet. Dieses Land ist mir sympathischer als Nordamerika. Im Dezember will ich aber noch mit Fridolin nach Süd-Chile fahren, wo das Klima außerordentlich gut für die Deutschen ist und wo die Natur von erhabener Schönheit ist. Ich denke, dass es Euch da besser gefallen wird. Wenn ich das Grundstück verkaufe zu dem erwarteten Preis, dann werde ich Onkel Hermann aus Kanada heranlocken, der Euch dann ein Schutzengel sein würde. Es wohnen dort fast nur Deutsche. Valdivia ist die Hauptstadt der Gegend und liegt am Stillen Ozean. Die Reise führt über Buenos Aires und über die Anden.

   Von Chile aus werde ich dann wahrscheinlich hierher zurückkehren und unter Umständen könnte ich dann gleich hier bleiben und Dich erwarten. Darüber werde ich dann nächstens weiter schreiben. Inzwischen empfange Du und Hanna und Maria und Hänschen meine herzlichsten Grüße
Dein getreuer Silvio

   Meinem Reisegefährten TUERCKE geht es so weit gut. Er wohnt hier vorläufig bei Fridolin in Punta Chica. Er hat aber bereits ein eigenes Häuschen in Aussicht und wirst demnächst hinziehen. Er wird wohl Emmy Martin mitnehmen, die heute eine anständig bezahlte Stellung in einem deutschen Handelshaus angetreten hat. Bisher hatte sie eine Dienstbotenstellung inne und hat dabei Spanisch gelernt. Tuercke selbst wird wohl auch bald eine Stelle suchen und auch finden. Dann ist für die beiden die soziale Frage zunächst gelöst.



An Prof. Dr. Irving Fisher vom 10.3.1929 aus Eden-Oranienburg

Sehr geehrter Herr Prof. Fisher!

Ich erhielt vor einiger Zeit Ihren freundlichen Brief und Ihr neues, überaus wertvolles und nötiges Werk. Da ich so gut wie alles unterschreiben kann, was in dem Buch gesagt ist und mit der hier geübten Deutlichkeit gesagt werden muss, so werde ich auch noch sehr oft die Gelegenheit haben, das Buch zu empfehlen.

   Sie mögen vom propagandistischen Standpunkt aus betrachtet recht gehabt haben, als Sie es ablehnten, selber positive Vorschläge für die Lösung der von Ihnen aufgezeichneten Aufgabe zu machen. Meisterhaft haben Sie es verstanden, dem intelligenten Leser implizit die Lösung zu zeigen. Da es aber nur auf diese intelligenten Leser ankommt, so erreichen Sie Ihr Ziel, ohne die Masse der Leser unnötigerweise vor den Kopf zu stoßen. Ich habe mich also über Ihr Werk gefreut und danke Ihnen herzlich für die freundliche Übersendung.

   Mit heutiger Post sende ich Ihnen Heft 3 des „Freiwirtschaftlichen Archivs“, worin im Artikel „Der Wertgedanke“ Ihr Name wiederholt genannt wird. Sie werden sehen, dass ich im Gebrauch des Wortes ‚purchasing power’ eine Gefahr erblicke, eine neue Quelle für eine neue money illusion. Der Wertgedanke (das sogenannte Wertproblem) ist nie etwas anderes gewesen als der wissenschaftliche Ausdruck der populären money illusion. Dieser Wertgedanke ist nun glücklicherweise zu Tode kritisiert worden. Niemand arbeitet noch mit diesem Gedanken. Und damit ist die Bahn frei geworden für neue fortschrittliche Forschung. Ich selbst habe den Wertgedanken schon vor über 30 Jahren bekämpft und meine Freude war groß, als ich ihn so nach und nach verschwinden sah aus der Literatur. Sie werden es darum begreifen, wie es mich betrüben würde, wenn der Wertgedanke und die auf ihm beruhenden money illusions im Gebrauch des Ausdrucks ‚purchasing power’ wieder Wurzel schlagen würden.

   Es würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie Gelegenheit nähmen, im „Freiwirtschaftlichen Archiv“ Ihre Gedanken zu meinen Betrachtungen zu veröffentlichen.

Mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung bin ich
Ihr ergebener Silvio Gesell

 

An Anna Boettger-Gesell vom 31.12.1929 aus Eden-Oranienburg

Allerliebste Boettgersanna,

die schönen Tage um Weihnachten herum sind nun vorüber. Und morgen können wir uns an den Silvesterfestlichkeiten erholen, wenn wir dazu Lust verspüren. Ich kenne diese Festlichkeiten leider nicht; so werde ich mich zu Bett legen und das neue Jahr schlafend seinen Einzug halten lassen. Ich weiß nicht, ob Anita Dir über die Weihnachtsfreuden berichtet hat. In einem Hause mit so vielen Kindern hat die Weihnachtsfeier einen wirklichen Sinn. Und man freut sich, mittenmang Jugenderinnerungen aufzufrischen.

   Eine große Freude hast Du mir mit Deinem Bild gemacht. Ich finde, es ist die beste Fotografie, die ich nicht nur von Dir, sondern überhaupt gesehen habe. Kein Künstler hätte die Stimmung und die „Seele“ so ausgezeichnet herstellen können, wie es hier der Knipser getan hat. Abgeklärte Lebensanschauung. Manchmal gelingt es mir, hinter den Augen des Bildes auch noch die aus der Braunschweiger Zeit hervorleuchten zu lassen, und dann erlebe ich eine doppelte Freude. Es sind über 40 Jahre her. Wie stark solch ein Blick sich einprägt! Und dann denke ich an die Zeit, wo Dein Bild auf meinem Schreibtisch in der Calle Tucaman No. 303 stand und ich auf die Ankunft vom Dampfer ‚Ohio’ wartete. Es war eine schöne Zeit und eine solche Zeit erlebt man nur einmal. Sage Tutti, dass ihre Mitarbeit am Gelingen des Bildes sichtbar ist und dass sie ihre Sache wirklich gut gemacht hat. Wie wird sich auch der Carlos Idaho freuen, wenn er das Bild erhält. Ich bin Tutti sehr dankbar für das schöne Weihnachtsgeschenk.

   Nun wirst Du sicherlich schon über Fridolins Reise Nachrichten haben. Hoffentlich ist die Reise gut verlaufen. Hoffentlich findet er eine gute Unterkunft da an der Riviera für die ganze kleine Familie und auch für Dich. Es ist recht nett von ihm, dass er Dich in Zürich abholen will. So wirst Du die Reise mit doppelter Ruhe antreten und mit doppeltem Genuss durchführen. Und dann wollen wir hören, was er von Deiner Reise nach dem La Plata sagt. Ich selbst bin alle Tage mehr entschlossen, in die Binsen zu gehen. Es ist mir, als ob jede einzelne Binse mit einem elektrischen Funken an der Spitze mich anzöge. Ich bereite meine Sachen so langsam vor. Dann verbrenne ich eine Menge Papiere, damit sich nachher niemand damit herumplagt, und heize den Ofen mit Büchern. Wenn es kälter wäre, würde diese Arbeit schneller vonstatten gehen. In der Vernichtung liegt die göttliche Ordnung. Das hat Annedore auch schon begriffen. Das Haus ist seitdem in musterhafter Ordnung. Vielleicht kostet diese Ordnung etwas mehr Geld.

   Heute haben wir herrliches Wetter. Sonne, wirklicher Sonnenschein. Nicht ganz wie in Les Hauts Geneveys, aber ähnlich. Und auch nur minutenweise. Aber man überzeugt sich wenigstens, dass die Sonne noch da ist.

   Adios, meine liebe Boettgersanna. Sei herzlich zum neuen Jahr begrüßt und auch die Mölikaters und Fridolin, wenn er dort auftaucht.

Dein Alterle

 

An Prof. Dr. Irving Fisher vom 2.2.1930 aus Eden-Oranienburg

Sehr geehrter Herr!

Erst heute bin ich in der Lage, Ihnen, sehr geehrter Herr, für das Werk, das Sie mir schickten, meinen Dank in der Form auszudrücken, wie ich es mir vorgenommen hatte, nämlich in Gestalt einer gut gelungenen englischen Übersetzung meines Buches „The Natural Economic Order“, translated by Philip Pye M.A. Ich glaube, Ihnen mit diesem Werk eine Freude zu bereiten, denn Sie werden sehen, dass hier die Forderungen, für die Sie schon so lange und so tapfer kämpfen, vielleicht mit anderen Worten, mit anderen Gedanken, mit anderen Argumenten, aber doch mit gleicher Unbeugsamkeit gestellt werden.

   Wenn die Organisationen, die sich hier in Deutschland für die Verwirklichung der in der NEO besprochenen Reformen gebildet haben, sich besonders in letzter Zeit mit erfreulicher Virulenz entwickeln, so dürfte das nicht zum geringsten Teil auf die Unterstützung zurückzuführen sein, die diese Reformen in wesentlichen Teilen durch Ihre Arbeiten erfahren haben. Und mir scheint, dass Ihre bahnbrechenden Arbeiten nirgends so offene und freudige Anerkennung gefunden haben wie hier.

Genehmigen Sie, hoch geehrter Herr, den Ausdruck
meiner vorzüglichen Hochachtung
Silvio Gesell

 

An Prof. Dr. Frederic Soddy vom 8.2.1930 aus Eden-Oranienburg

Sehr geehrter Herr!

In einer Ihrer Schriften über das Geldwesen nannten Sie auch meinen Namen in einem mich ehrenden Zusammenhang. Es beunruhigt mich aber der Gedanke, dass Sie Ihr Urteil über meine Leistungen wahrscheinlich aus Briefen, die Freunde meiner Reformvorschläge an Sie gerichtet haben mögen, gebildet haben und dass Sie, wenn Sie meine Arbeiten im Zusammenhang und auch in Ihrer Muttersprache vorgelegt bekommen, aus irgendwelchem Grunde Ihre Äußerung bereuen möchten. Diese Beunruhigung wächst sich aber jetzt zu einem Unbehagen aus, wo der Übersetzer, Mr. Philip Pye M.A., Ihren Namen zu Reklamezwecken für das Buch verwendet, allerdings nur in Form eines Zitates aus Ihren Werken.

   Ich möchte Sie also bitten, sehr geehrter Herr Soddy, das Buch „The Natural Economic Order“, sobald Sie Zeit dazu finden, durchzulesen. Und wenn Sie dann glauben, alle die warnen zu müssen, die Ihr Name in der Reklame anlocken könnte, so teilen Sie mir das bitte mit, damit ich entsprechend handeln kann. Ich werde dann die Seite mit den „References“ ausmerzen lassen. Das Buch geht Ihnen heute durch die Post zu. Sollte ich keine Antwort erhalten, dann nehme ich an, dass Sie mit den „References“ einverstanden sind.

Genehmigen Sie, sehr geehrter Herr Soddy,
den Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung
Silvio Gesell

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